Judith Holofernes von der Band „Wir sind Helden“ hatte 2004 zwei Vorschläge für den Umgang mit ungeliebten und kolossalen Denkmälern: entweder die „schlechtesten Sprayer der Stadt” zu engagieren oder „den Vorschlaghammer“ rauszuholen. Letzterer ist dem Ernst-Thälmann-Denkmal an der Greifswalder Straße erspart geblieben, während Sprayer dessen Sockel seit drei Jahrzehnten für ihre Botschaften nutzen.
Auch die fünf roten Betonquader, die seit dem 18. November 2021 neben dem Denkmal stehen, werden Projektionsflächen für (künstlerische) Auseinandersetzungen sein. Die Auseinandersetzung ist beabsichtigt, denn sie ist Teil der „Künstlerischen Kommentierung des Ernst-Thälmann-Denkmals“. Unter diesem Motto hatte das Bezirksamt Pankow – mit Mitteln aus dem Programm Nachhaltige Erneuerung – einen Kunstwettbewerb initiiert und im Ergebnis den Entwurf der Künstlerin Betina Kuntzsch „Vom Sockeln denken“ favorisiert. Ihre Installation wird an diesem grauen Novembertag im Beisein von vielen Interessierten eingeweiht, darunter Gäste aus Kunst und Politik. Auch Kritiker:innen an der Kommentierung des Denkmals sind gekommen.
Klar ist: auch nach 31 Jahren werden die Debatten um Thälmann weiter „engagiert und kraftvoll geführt“, so die neue Pankower Bezirksstadträtin für Kultur, Dominique Krössin, die – ebenso wie die Künstlerin Betina Kuntzsch – eine sehr persönliche Beziehung zum Thälmannpark hat. In ihrer sensiblen Ansprache berichtet sie von ihrem Großvater, der als NSDAP-Mitglied das Gaswerk leitete, das sich damals hier befand. Wenige Jahre nach der Nazi-Diktatur starb er an den Folgen einer dreijährigen Haft im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen. Ernst Thälmann, dessen Bronzebüste mit erhobener Rotfront-Faust hinter der Stadträtin steht, wurde nach 10 Jahren Einzelhaft im KZ Buchenwald von Nazis ermordet.
Sie selbst sei als typisches DDR-Kind einen anderen Weg gegangen. Toleranz sei zu ihrem Lebensmotto geworden und diese Toleranz wünsche sie sich auch für die Kunst-Installation auf dem Platz. „Vom Sockel denken“ soll auch Thälmanns Irrtümer, seine Tragik und spätere Glorifizierung vor dem Vergessen bewahren. Das Denkmal bleibt ein Widerspruch in sich, genau wie der Ort, an dem es steht.
Viele aus dem Kiez erinnern sich noch an den Dreck vom Gaswerk, an die umstrittene Sprengung der Gasometer, später an blühende Wiesen, besondere Lokale – und an die Enthüllung des Monuments am 16. April 1986, Thälmanns 100. Geburtstag. Schon damals stieß das Werk von Lew Kerbel auf wenig Gegenliebe beim Volk. Betina Kuntzsch und ihre Mitstreiterinnen holten Original-Filmaufnahmen aus den Archiven, die zeigen, dass viele Menschen dreieinhalb Jahre vor den Demonstrantionen, die das Ende der DDR einleiteten, der bestellten Aufmärsche und brachialen Auftragskunst längst überdrüssig waren. Die Künstlerin ergänzte diese Archiv-Aufnahmen in acht Epsioden durch Grafiken, Kinderzeichnungen, Musik und sparsame Off-Kommentare. Die Videos kann man mittels QR-Code auf den Stirnseiten der Sockel und auf www.vomsockeldenken.de jederzeit abrufen.
Die Künstlerin Betina Kuntzsch macht in den Kurzfilmen – zusammengefasst unter dem Titel „Kopf Faust Fahne“ – deutlich: der Thälmannpark ist bis heute ein guter Ort zum Leben. Weil Kuntzsch selbst ihre Kindheit hier verbrachte, trotz aller Widersprüche lange an den Fortschritt glaubte, ist jede Sequenz authentisch und mit Bedacht gewählt. Kuntzsch verurteilt nicht, sondern lässt Raum für Ergänzungen des Publikums. Und das Publikum ist bei der anschließenden Berliner Filmpremiere in der benachbarten Wabe dankbar dafür, denn fast jede der Zuschauerinnen und Zuschauer findet sich in einer der Episoden wieder.
„Kopf Faust Fahne“ beantwortet mit seiner künstlerischen Darstellungsweise auch die Frage, was einen Kunst-Wettbewerb mit dem Programm „Nachhaltige Erneuerung“ verbindet. Der denkmalgeschützte Thälmannpark mit seiner gelungenen Transformation vom Industriegebiet hin zum begehrten Wohnort ist eben nur mit dem Bronzekopf denkbar. Den Vorschlaghammer rauszuholen – wie für andere DDR-Zeit-Zeugnisse, etwa den Raum greifenden „Palast der Republik“ oder das filigrane „Ahornblatt“ – wäre gerade nicht nachhaltig. Im Gegenteil: durch die Beziehung zwischen dem Denkmal und den neuen Sockeln kann ein Diskussionsforum entstehen, das erstmals nicht von vornherein die Täter-Opfer-Definition festschreibt.
Bleiben noch die „Sprayer“, die sich wieder und wieder am großen Sockel abarbeiten. Sie könnten nun auf die Graffitis Bezug nehmen, die auf den roten Quadern prangen. „Flocke“ steht da oder „Irmas Teddy“ – merkwürdige Worte in einer Zeit, die sonst alles immer sofort erklären möchte. Der neu interpretierte Vorplatz des Monumentes ist ein Angebot, Thälmann nicht nur „vom Sockel (zu) denken“, sondern auch miteinander ins Gespräch zu kommen – über Mut, Anpassung und Widerstand. Einige Gespräche hat Betina Kuntzsch in den vergangenen Monaten mit Anwohnerinnen und Nutzern des Areals aufgenommen. Sie verarbeitet diese Eindrücke derzeit in einer weiteren Film-Episode.
Alle bereits entstandenen Filme https://www.vomsockeldenken.de/p0/ laufen in Kürze in den Kinos von Prenzlauer Berg. Geplant ist zudem, die Debatte über die künftige Gedenktafel mit einer historisch-kritischen Kommentierung des Denkmals neu zu beleben. Dafür möchte sich Dominique Krössin als Vorsitzende der Gedenktafel-Kommission des Bezirks persönlich einsetzen.
Das Projekt entstand in enger Zusammenarbeit mit Christina Schmidt und der Galerie Pankow.